„Die Krise hat uns erst zusammengeschweißt“

Neue Interview-Serie „Nachgefragt“:
Silvia Dahlkamp im Gespräch mit Pfarrer Christoph Scieszka

Foto: Silvia Dahlkamp

Gottesdienste via Internet, Seelsorge aus dem Homeoffice, Gebetskreise per Zoomkonferenz: Corona hat das Leben in der Pfarrei St. Ansverus verändert. Das Pastoralteam musste neue Wege finden, um für die Menschen da zu sein. Wie gut funktioniert Gemeinde auf Distanz – und was bedeutet das für die Großpfarrei? In unserer neuen monatlichen Interview-Serie „Nachgefragt“ erzählen Geistliche und pastorale Mitarbeiter/innen von ihrer Arbeit – den Auftakt macht Pfarrer Christoph Scieszka.

Herr Pfarrer Scieszka, Sie leiten seit zwei Jahren die Pfarrei St. Ansverus, die mehr als halb so groß wie das Saarland ist. Bald ist Weihnachten, und die Corona-Zahlen steigen und steigen. Schon zu Ostern standen Sie in einer leeren Kirche. Was war das für ein Gefühl?

Pfarrer Christoph Scieszka: Das möchte ich nie wieder erleben. In der Osternacht stand ich vor leeren Bänken und habe die Osterkerzen gesegnet, nur Kaplan Weber und ich, ganz allein in der dunklen Kirche. Die Kerzen sind ein Symbol für Hoffnung und neues Leben. Doch das Gefühl war ganz anders, traurig und einsam. Ich habe die Menschen vermisst. Niemand hat Halleluja gesungen. Das war schlimm. Am Ostersonntag habe ich mich dann hinters Steuer geklemmt, um in allen sechs Gemeinden eine Osterkerze aufzustellen – das sind insgesamt mehr als 150 Kilometer. An der letzten Station, in Großhansdorf, haben mich drei Gemeindemitglieder empfangen. Wir haben die Osterkerze angezündet. Alle hatten Tränen in den Augen.

Befürchten Sie, dass zu Weihnachten die Gotteshäuser wieder geschlossen sind?

Scieszka: Wer weiß das schon? Aber was auch kommt, Heiligabend wird ganz anders werden – ohne Krippenspiel und ohne Chor, der „Zu Bethlehem geboren“ singt. Im vergangenen Jahr war die Kirche so voll, dass ich Decken aus meiner Wohnung holen musste, damit die Kinder auf dem Boden sitzen konnten. Sogar auf meinem Priesterstuhl haben die Kleinen gehockt. Wenn mir jemand erzählt hätte, das ist nächstes Jahr verboten, hätte ich gesagt: der spinnt. Jetzt werden wir wohl draußen feiern. Im Liturgieausschuss gab es schon Vorschläge. Die Möllner haben zum Beispiel einen Bauern gefragt, ob sie Weihnachten auf seiner Schafweide feiern dürfen. Auch Andachten auf Fußballplätzen sind möglich oder Umzüge mit Stopps, wo wir hinter unseren Masken „O du fröhliche“ summen. Ich bin für Vorschläge dankbar.

Von Hoffnung und Fröhlichkeit liest man zurzeit nicht viel. Was würden Sie sich wünschen?

Scieszka: In den vergangenen Monaten gab es sehr traurige Momente, in denen ich mir gewünscht hätte, dass mehr Nähe möglich gewesen wäre. Ich denke da an einen Besuch in einem Altenheim. Eine Frau lag im Sterben. Sie konnte einfach nicht gehen. Ihr Mann hat mich gebeten: „Bitte, bringen Sie ihr die Krankensalbung.“ Doch ich durfte das Heim nicht betreten. Tagelang habe ich immer wieder angerufen, regelrecht gebettelt. Als ich endlich zu ihr durfte, kamen Dutzende alte Menschen an ihre Zimmertüren. Sie haben sich wahnsinnig gefreut, endlich mal wieder jemanden anderen als die Pfleger zu sehen. Wieviel Isolation halten Menschen aus? Das ist mir sehr nahe gegangen.

„Abgesagt.“ „Verschoben“. „Fällt aus.“ – Wenn man auf die St.-Ansverus-Homepage geht, scheint es, als würde gerade etwas sterben, was Gemeinde wesentlich ausgemacht: das Miteinander.

Scieszka: Der Lockdown im März hat uns eiskalt erwischt. Plötzlich stand alles auf null: Ausflüge, Koch- und Literaturkreise, Theaterfahrten, Vorträge, Filmabende, Seniorennachmittage – nichts fand mehr statt. Ich habe in den vergangenen acht Monaten kein einziges Kind getauft, kein Paar getraut, es gab nur Beerdigungen: zum Teil mit höchstens fünf Personen, die sich nicht einmal am Grab umarmen durften. Da findet man auch als Pfarrer kaum passende Worte. Und trotzdem ist das kein Grund, die Hoffnung zu verlieren, im Gegenteil: Es macht Mut, wenn man sieht, wie viele Menschen hinter den Kulissen schuften, damit wir wenigstens im Notbetrieb laufen.

Laut Studien ist die Hilfsbereitschaft während des Lockdowns in Deutschland gestiegen – auch in unserer Pfarrei?

Scieszka: Auf jeden Fall. Pfadfinder und Konfirmanden kaufen für ältere Gemeindemitglieder ein. Es wurden Masken im Akkord genäht, Ehrenamtliche organisieren Nachbarschaftshilfen … Ich glaube, dass wir in der Krise erst richtig zusammengewachsen sind. Zurzeit prüfen die Gemeindeteams hinter den Kulissen noch einmal die Hygiene-Konzepte, damit weiterhin Gottesdienste stattfinden dürfen und wir niemanden nach Hause schicken müssen.

Mitte März haben Sie erstmals Lesungen und Predigt per E-Mail verschickt, inzwischen werden Gemeindegottesdienste live übertragen. Ist das Leben auf dem Weg ins Digitale und St. Ansverus auf dem Weg zur digitalen Gemeinde?

Scieszka: Ich bin überzeugt, dass die Zukunft der Seelsorge analog ist: in den Kirchen vor Ort, im Miteinander. Das ist wie bei einem Konzert. Keine Stereoanlage kann Live-Musik toppen.

Und trotzdem ist doch eine Stereoanlage besser als gar keine Musik …

Scieszka: Die Mischung macht es. Deshalb sind wir jetzt auch im Bereich der neuen Medien sehr aktiv. Sie helfen uns, mit den Menschen in Kontakt zu bleiben. Doch der Anfang war gar nicht so einfach. Schließlich wussten wir vor acht Monaten nicht einmal, wie man eine Telefon- oder Videokonferenz startet … Doch dann hat uns die IT-Abteilung des Erzbistums Hamburg geholfen, solche virtuelle Treffen zu organisieren. Zum Glück ist Diakon Riedel fit im Bereich Kommunikation. Er hat den Newsletter entwickelt, der Mitte März – weniger als eine Woche nach dem Lockdown – erstmals rausging, und mit dem wir inzwischen jede Woche knapp 1.400 Gemeindemitglieder erreichen. Anfangs haben wir nur PDF-Dokumente verschickt. Inzwischen sind wir besser geworden, übertragen mit Hilfe zweier Ehrenamtlicher aus Mölln gelegentlich sogar Gottesdienste im Livestream auf einem eigenen YouTube-Kanal oder versenden Audios von Orgelmusik aus unseren Kirchen. Auch Gebetskreise finden per Zoomkonferenz statt. Es gibt Online-Workshops und WhatsApp-Gruppen, über die sich Firmbewerber vernetzen.

In den Neuen Medien sind meist junge Menschen unterwegs. Wie haben Sie die Senioren erreicht?

Scieszka: Tatsächlich ganz altmodisch: mit einem Brief. Darin haben wir u.a. angeboten, dass man das Pastoralteam gerne anrufen kann, wenn einem die Decke auf den Kopf fällt – eine Art „Telefonseelsorge“ also. Die Resonanz war überwältigend. Bei mir haben Menschen angerufen, die ich gar nicht kannte. Viele waren sehr allein. Ich hörte zu und dachte: Endlich bin ich Seelsorger. Sonst sitze ich ja ständig in irgendwelchen Gremien, Sitzungen oder erledige Verwaltungsarbeiten. Es gab sehr viele, sehr persönliche Momente.

Wenn der Brief an die Senioren so ein Erfolg war – warum ist bei diesem einen Brief geblieben?

Scieszka: Es ist traurig, aber für unsere Diaspora-Gemeinde sind 2.800 Euro Porto ein Vermögen. Zum Glück hat uns der Sommer eine Corona-Verschnaufpause geschenkt. Es gab wieder Seniorennachmittage und Treffen nach der Messe am Sonntag. Im vergangenen Monat fand sogar die Ansverus-Wallfahrt statt – in kleinerer Version, mit Picknick auf der Wiese. Alle konnten auf Abstand zusammen sein, sprechen und lachen. Viele haben mir gesagt: Ich habe die Gemeinschaft so vermisst! Das tut so gut! Aber jetzt kommt der Winter. Seitdem es täglich neue Rekorde bei den Infektionszahlen gibt, kommen wieder weniger Menschen zum Gottesdienst. Ich habe Sorge, dass gerade alte Menschen vor Einsamkeit krank werden, sterben. Deshalb wird auch in diesen Tagen wieder ein Brief herausgehen.

Die Älteren ziehen sich zurück, die Jüngeren sitzen im Homeoffice – was macht das mit den Menschen?

Scieszka: Ich denke, dass sich die Gesellschaft gerade enorm verändert. Das merke ich auch an mir selbst. Wenn sich in einem Film zwei Menschen die Hand geben, ertappe ich mich bei dem Gedanken: Wie können die das machen? Nähe, Vertrautheit, Gemeinschaft werden uns fremd. Als im Sommer die Gottesdienste wieder starteten, habe ich viele Menschen vermisst, die sonst jeden Sonntag kamen. Vor allem Familien ziehen sich zurück – vielleicht aus Angst. Vielleicht feiern sie die Heilige Messe aber jetzt auch per Live-Stream im Schlafanzug vor dem Fernseher. Im Netz gibt es ja inzwischen ein großes Angebot … Ich bin nicht sicher, ob die Menschen nach Corona zurück in die Kirche kommen.

Die Pfarrei St. Ansverus wurde 2018 gegründet und steckt doch noch immer mitten in einem Prozess des Zusammenwachsens. Wie wollen sie trotz der Pandemie aus knapp 14.000 Katholiken auf über 1.500 Quadratkilometern eine funktionierende Gemeinschaft machen?

Scieszka: Tatsächlich frage ich mich oft, wie die Gemeinden und die Pfarrei nach Corona wohl aussehen, wieviel Gemeinschaft bleibt. Weniger pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, weniger Gläubige, weniger finanzielle Mittel – das alles konnte uns nicht schrecken, als vor über zwei Jahren unsere Pfarrei errichtet wurde. Das Gebiet ist mehr als halb so groß wie das Saarland. Trotzdem herrschte in allen Gemeinden eine unglaubliche Aufbruchsstimmung. Wir haben gemeinsam mit unserem Erzbischof den Neuanfang gefeiert. Das Pastoralteam und die ehrenamtlichen Mitarbeiter hatten sich viele neue Konzepte überlegt, damit diese Großpfarrei lebendig wird. Alle wollten anpacken und waren zuversichtlich: Wir schaffen das! Dieses Jahr sollte zum Beispiel jeden Monat ein Event zum 20. Geburtstag des Kinderhilfswerks Bogota stattfinden: ein Jazz-Frühschoppen, eine Kolumbianische Fiesta, eine Vernissage, ein Basar mit Tombola und Flohmarkt … Dann kam die Pandemie.

Auch das Singen in der Kirche ist verboten. Es geht sicherlich auch ohne, aber gerade Gesang macht den Gottesdienst ja lebendig.

Scieszka: Natürlich, aber wie so oft in diesen Zeiten habe ich auch da einen Kompromiss gefunden. Ich war so froh, dass wir die Erstkommunion nachholen konnten und die Firmung nicht absagen mussten. Also habe ich mir ein Spotify-Abo und eine Boom-Box gekauft. „Kleines Senfkorn Hoffnung“ klingt auch aus der Dose gut. Die Kinder waren auf jeden Fall begeistert.

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